Mathieu van der Poel ist kein Radfahrer wie andere. Er ist Sohn des Adrie van der Poel, Cyclocross- Weltmeister, Träger des Gelben Trikots, Triumphator etlicher Monumente et cetera, und Enkel des legen- dären Raymond „Poupou“ Poulidour, heißgeliebter „Zweiter“ und in Frankreich fast heiliggesprochener Duellgegner des großen, aber weniger volksna- hen Jaques Anquetil. Mathieu van der Poel ist also Spross einer veritablen Dynastie, einer der talen- tiertesten Radfahrer aller Zeiten und sein Traum hat eine Farbe: Gelb. Das Gelbe Trikot des Führenden der Tour de France. Diese textile Obsession sollte sich 2021 auf der 2. Etappe der Tour erfüllen. Aber vor der 5. Etappe, die auf Vélo-Französisch „gegen die Uhr“, also im einsamen Zeitfahren, ausgetragen werden sollte, war Tadej Pogačar dem Holländer in Gelb gefährlich nahegerückt. Ganz nahe. Mathieu konnte Tadejs Atem förmlich spüren und schon sein Kettenöl riechen, so nahe. Und der Slowene war als der beste Zeitfahrer im Feld anerkannt, das wusste Mathieu van der Poel so gut wie auch sein Team Alpecin-Fenix.
Es würde um Sekunden gehen, die das Gelbe Trikot sichern konnten. Einen Tag mehr in Gelb, das klingt nüchtern betrachtet nach 24 Stunden in einem Shirt mit heller Farbe. In der Welt der Cyclisten bedeu- tet das den Unterscheid zwischen Göttlichkeit und Verdammnis, Ruhm und Versagen. Dafür leidet man, dafür durchlebt man existenzielle Dramen und viele kleine Tode und große Auferstehungen. Einen Tag des Lebens mehr oder weniger in Gelb, das verän- dert das Sein und Werden eines Mannes am Sattel einer Rennmaschine.
30. Juni 2021: Zeitfahren, 5. Etappe
- der Tag für alles oder nichts. Großvater Poupou hatte einen Tag in Gelb selbst nie erleben dürfen, sein glorioses Scheitern ist heute Teil des heiligen Evangeliums der Radfahrergemeinde. Aber der Enkel hat es geschafft, die große Trophäe erjagt und er will sie für seinen verstorbenen Großvater noch einen, diesen einen strahlenden Tag in Laval behalten. Dafür schien jedes legale Mittel recht, wenn auch nicht unbedingt billig. Was konnte diese entscheidenen Sekunden retten? Den seligen Poupou zur Rechten des ewigen Fahrradgottes noch seliger und das Zeitfahren zur Sternstunde des jungen Mathieu van der Poel machen? Ein Wort reichte allen Kennern: Princeton. Die Meinung des Teams: Princeton. Die Sehnsucht Mathieus: Princeton!
Diese fast mystisch verehrten Laufräder, die Filippo Ganna zum Weltmeister gemacht hatten, sollten sein Gelbes Trikot absichern.
Aber Princeton Laufräder, namentlich die Modelle Wake 6550 für das Vorderrad und Blur 633 für das Hinterrad, die gab es nur im Team INEOS. Und das Team INEOS teilt gar nicht gerne ihre exklusiven Hightech-Waffen. Nie und nimmer. Aber im fernen Andorra lagerte Ex-Ruderer und Ineos Fahrer Ca- meron Wurf das runde, schwarze Gold aus Princeton wie einen heiligen Hort. Und Cameron wollte Mat- hieu helfen. Aber wie in einem Tag diese Räder von Andorra in den Nordwesten Frankreichs rollen? Das Wunder geschah (die gläubige Poulidourgemeinde vermutet bis heute eine himmlische Intervention des seligen Großvaters) und Cameron fand einen Fahrrad-Aficionado mit Automobil in der Garage und einer Portion Wahnsinn im großen Herzen, der in ei- ner Nachtfahrt über 10 lange Stunden die Princeton Wunderwaffen persönlich auslieferte. 1.000 km Fahrt für 27,2 km Zeitfahren und am Ende der Fahrt: 8s Vorsprung auf Tadej Pogačar im Gesamtklassement. Zeitzeugen berichten glaubhaft, dass an diesem Tag der Himmel über Laval gelb leuchtete, manche hörten sogar hinter einer großen lächelnden Wolke ein zufriedenes Seufzen: „Oui!“

